Mordreds Tales
© 2010 – 2024 Marcel Wolters







 

Xiuhcoatl – Die Feuerschlange



Langsam löste sich der Wassertropfen vom Rand der Flasche. Unendlich langsam. Die Sonne brannte unbarmherzig und vergrößerte Carlos‘ Durst nur. Carlos Emilio Serpenta, genannt „El Diablo” und einer der berüchtigtsten Desperados im nördlichen Mexiko, stand langsam auf. Hernando, dieser Verräter mochte ihn in der Wüste ausgesetzt haben, ohne Pferd, ohne Waffen, mit nur einer Flasche Wasser. Aber noch war Leben in Carlos. Und solange er lebte, würde er weiterlaufen. Es konnten höchstens noch zwei oder drei Meilen bis zur nächsten Ortschaft sein. Carlos würde dort Wasser, Proviant und vor allem ein Pferd bekommen. Egal, wen er dafür umlegen müsste. Und danach würde er Hernando umlegen.

Im Flirren der Luft unter der mittäglichen Sonne schien sich etwas zu bewegen. Etwas Großes, Langes. El Diablo blieb stehen. Er beschirmte seine Augen mit der rechten Hand. Nichts zu sehen. Es musste eine Täuschung gewesen sein. Die Hitze, die Sonne, der Durst … Serpenta hatte gehört, dass Menschen manchmal in der Wüste Dinge sehen, die nicht existierten.

Wieder eine Bewegung. Näher diesmal. Neben ihm. Carlos blieb erneut stehen. Die Sonne brannte auf seinen Kopf. Ein Schatten erhob sich an seiner rechten Seite. Das letzt Bild in Carlos Emilio Serpentas Augen war der Kopf einer riesigen Schlange.



Gott schien eine neue Sintflut beschlossen zu haben. Seit 5 Tagen wurde New York ohne Unterlass von Regengüssen heimgesucht. Jack schlug den Kragen seines Mantels hoch, als er vom Taxi, dessen Scheibenwischer das fallende Nass nicht wirklich beherrschten, zum Eingang des Bahnhofs lief. Wegen des Regens wurde der Flugverkehr im Großraum New York eingestellt. Es blieben also nur Busse und Züge übrig, um aus der Stadt zu kommen. Natürlich wurden den Passagieren, die nunmehr zwingend auf diese Alternativen zurückgreifen mussten, die Kosten für die Stornierung der Flugtickets ohne Aufsehen erstattet. Der Flugpreis war Jacks Kreditkarte bereits wieder gutgeschrieben worden. Jetzt wollte er nur noch nach Hause.

„Flug gestrichen, nehme den Zug und komme erst morgen –- J.R.”

Wenn man nicht will, dass sich die Liebste sorgt, schickt man ihr wenigstens eine SMS. Jack hätte auch anrufen können. Er hätte gerne seine Frau angerufen. Aber eigentlich wollte er im Augenblick nur eine Mütze voll Schlaf nehmen. Außerdem war er spät dran. Der Zug stand am Bahnsteig, aus den Lautsprechern tönte der letzte Aufruf. Einen kurzen Sprint später stieg J.R. im letzten Moment ein. Zwei Minuten nach der Abfahrt schlief er tief und fest.

***


Etwas stimmte nicht. Als Jack die Augen öffnete, schmerzte sein Kopf. Er saß nicht mehr, er lag auf der Seite. Schmerzen durchzogen seinen Arm, als er versuchte, sich aufzusetzen.

„Verdammt!” Jack zog ein paar Glassplitter aus seinem Arm und sah sich um. Er hörte Hilferufe, konnte aber niemanden sehen. Der Waggon lag auf der Seite und Jack daneben. Ein seltsames Geschick hatte ihn mitten im Nirgendwo aus einem entgleisten Zug geschleudert. In der Ferne hörte Jack Motoren und Sirenen. Er versuchte die Richtung auszumachen, aus der die Geräusche kamen. Was er aber sah, waren keine Rettungsfahrzeuge sondern … eine riesige Schlange … Dann umfing ihn erneut Dunkelheit.

***


„Sir? Sir, können Sie mich hören?” Ein Mann rief von weit her nach Jack. Die Stimme wurde lauter und deutlicher. Jack schlug erneut die Augen auf. Die Morgendämmerung war hereingebrochen. Neben ihm hockte ein Sanitäter und versorgte die Schnitte an seinem Arm.

„Was ’n los?”, fragt Jack noch etwas benommen.

„Ihr Zug ist verunglückt. Offenbar sind Sie der einzige Passagier, der so gut wie nichts abbekommen hat. Eine kleine Beule am Kopf, ein paar Schnitte am linken Arm – mehr nicht. Der Doc wird sich das ansehen, sobald er Zeit hat.” Mit diesen Worten wandte sich der Sanitäter dem nächsten Patienten zu. Jack stand vorsichtig auf. Kein Schwindelgefühl, keine wackligen Beine. Etwas erstaunlich in Anbetracht dessen, was passiert war. Manche Dinge muss man wiederum einfach annehmen.

Erinnerungen kamen. Dauerregen, keine Flüge von und nach New York, Schlaf … Schmerzen und eine riesige schlangenartige Gestalt, die offenbar nicht echt war. Jack ging ein paar Schritte und begutachtete die umgestürzten, zum Teil völlig auseinandergerissenen Zugwaggons. Es erschien ihm wie ein Wunder, dass überhaupt jemand überlebt hatte. Dass er nur ein paar Blessuren abbekommen zu haben schien, war für Jack schier unglaublich. Sonnenaufgänge hatten für ihn bisher keine romantische Bedeutung. Doch der rote Schein, der sich in diesem Augenblick am Horizont zeigte, ließ ihn erschauern. Für einen Augenblick zitterten seine Knie. Sekunden später zitterten sie wieder. Dann ging ein Knacken durch den Boden und er gab nach. Jack fiel.

„Verdammt!” Jack sah sich um. Er stand in einem Tunnel. Ungefähr dreieinhalb Meter Höhenunterschied trennten ihn von dem Platz, an dem er eben noch gestanden hatte. Ans Hochklettern war nicht zu denken. Also folgte er dem einzigen Weg, den er sah – tiefer in den Tunnel hinein. Hinunter in die Dunkelheit.

Während er im Dunkeln nach dem Weg tastete, überschlug Jack, wo ungefähr er sein könnte. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war, aber die Kennzeichen der Rettungsfahrzeuge waren aus New Mexico. Jack glaubte, ein Flugzeug im Landeanflug gesehen zu haben. Alles deutete darauf hin, dass er nicht weit von zu Hause entfernt war. Zwanzig, vielleicht dreißig Meilen. Aber wo kam dann dieser Tunnel her?

***


Schlangenhaut fiel zu Boden. Der Körper der Schlange schrumpfte, Arme und Beine erschienen. Eine Fratze, halb menschlich, halb der eines Reptils grinste den Mann an, der in der Mitte eines Bannkreises von einem weißen Schimmer umgeben in Ketten lag.

„Kein Licht mehr”, zischte die Fratze, „nur noch Dunkelheit. Es dauert nicht mehr lange. Spare Deine Kraft, Engel!”

Der Engel lächelte müde. Er schloss die Augen und das Leuchten, das von ihm ausging, wurde heller.

***


Jack war knapp dreieinhalb Stunden durch dunkle Gänge gestolpert, als er eben jenes Leuchten wahrnahm. Er war es leid, im Dunkeln zu tappen. Jack hielt auf das Leuchten zu. Wo Licht ist, ist Hoffnung. Und mit einem bisschen Glück auch jemand, der ihm weiterhelfen konnte. Jemanden fand Jack. Aber in seiner augenblicklichen Lage würde er Jack kaum helfen können.

Was Jack außerdem fand, war die Haut einer mindesten 20 Meter langen Schlange. Er wusste natürlich, dass keine Schlange in diesem Sektor der Galaxis eine solche Größe erreicht. Aber die Fakten sprachen für sich.

„Hilfe!” Die Stimme des Mannes am Boden war schwach. Von ihm schien keine Gefahr auszugehen. Außerdem war er Jacks beste Chance, hier raus zu kommen.

„Kennen Sie einen Weg nach draußen?”

Der Mann nickte. „Nehmen Sie den Gang zu Ihrer Rechten und folgen Sie ihm.”

„Kommen Sie nicht mit?”

„Nein.” Der Fremde trat aus dem Kreis, in dem er gelegen hatte, schloss seine Augen und hob die Arme ein wenig. Einen Augenblick und einen gleißenden Blitz später trug er eine Brustplatte, einen Helm und Flügel. „Ich habe noch etwas zu erlegen.”

„Ich rate mal wild: Sie wollen eine Schlange jagen.” Angesichts dessen, Jack gesehen hatte, als er die Höhle betrat, war es nicht schwer, zu diesem Schluss zu gelangen. „Was ist das für ein Vieh? Und was zur Hölle sind Sie?”

Der Geflügelte zögerte. „Das … Vieh”, erwiderte er schließlich, „ist DIE Schlange.”

„DIE Schlange? Satan? Und Sie sind der Erzengel Michael?” Trotz der Fakten konnte Jack seine Skepsis nicht verbergen.

„Ich bin ein Engel, ja.” Jack hörte den anderen leise lachen. „Aber die Schlange ist nicht Satan. Glauben Sie nicht alles, was in der Bibel steht. Da hat sich jemand verschrieben. Satan hat damit nichts zu tun. Die Schlange ist das Böse. Seit Langem versucht sie, Eurer Welt habhaft zu werden. Die heidnischen Völker tief im Süden beteten sie als Gott an. Und jetzt versucht dieser finstere Gott, die Erde in die Dunkelheit zu stürzen.”

„Sie meinen das ernst.”

Des Engels Blick heftete sich auf die Schlangenhaut, dann sah er Jack an. „Natürlich.”

„Dann haben wir ein ernsthaftes Problem?”

„Ich werde mit ihm fertig.”

Jack sah zweifelnd auf die Ketten, die den Engel gehalten hatten. „Sah bis eben nicht so aus. Ich komme mit.”

Der Engel sah dem Menschen tief in die Augen. Dann nickte er und ging. „Sie haben nicht zufällig noch so ein hübsches Schwert?”, rief Jack. Der Engel hob die Hand und aus dem Nichts fiel eine lange, silbern glänzende Klinge vor Jacks Füße. „Oh! Danke!”

„Es wird Ihnen nicht viel gegen die Schlange nützen. Aber Sie können sie von mir ablenken. Fürchten Sie sich nicht. Ich trage Sorge, dass Ihnen nichts geschieht.”

***


„Gibt es eigentlich noch etwas, das ich wissen sollte?” J.R. machte sich inzwischen Sorgen, dass er vorschnell gehandelt haben könnte.

„Wenn Sie die Möglichkeit haben, einen Treffer zu landen, dann nutzen Sie sie. Der Feind wird sich vielleicht als Mensch zeigen. Zögern Sie nicht. Stoßen Sie zu, wenn Sie können. Doch letztlich werden Sie den Schlangengott nicht besiegen können. Wir werden ihn nicht töten können.”

Jack zog die Stirn in Falten. „Klingt ermutigend.”

„Die Azteken”, fuhr der Engel fort, „weihten diesem Gott eine Lanze. Sie nannten sie den Speer des Xiuhcoatl . In diesem Speer liegt die Macht der Schlange auf Erden. Gelingt es uns, ihn zu zerstören, gelingt es uns auch, die Schlange zu bannen. Zumindest vorerst. Die Tage des Jüngsten Gerichts sind noch nicht gekommen.”

Das sollte machbar sein, dachte Jack. Vorausgesetzt, man fände diesen Speer von Xiudingsbums. „Xiuhcoatl”, berichtigte der Engel mit einem leisen Lachen, „und die Schlange hat den Speer bei sich. Finden wir die Schlange, finden wir auch den Speer.” Einen Augenblick später, als das verdutzte Gesicht seines menschlichen Begleiters sah, fügte er entschuldigend hinzu: „Ich kann Ihre Gedanken hören. Ich bitte um Verzeihung. Es war Unrecht, ohne Erlaubnis Ihre Gedanken zu belauschen.”

„Kein Ding”, gab Jack zurück, „aber hier sind wir wohl falsch. Vor uns ist die Welt sozusagen zu Ende.”

Das Lachen des Engels wurde lauter. „Nur für den menschlichen Geist, mein Freund. Nur für den menschlichen Geist. Ihr Menschen bindet Euch so sehr an die Materie, dass dieser Gang für Euch eine Sackgasse ist. Legen Sie Ihre Hand auf meine Schulter.” Jack tat, wie ihm geheißen. „Halten Sie sich bereit”, sagte der Engel, „Ich habe keine Ahnung, was uns erwartet.” Dann schritten Jack und der Engel durch massiven Fels.

***


„Er ist da. Und er ist nicht allein.” Der Schlangengott hob den Blick. Schuppige Gestalten mit gefiederten Köpfen sahen ihn aus leeren Augen an, erwarteten die Befehle ihres Meisters. Der Meister zeigte in Richtung des einzigen Ausganges aus der in den Fels gehauenen Halle. „Tötet sie!”, hallte seine Stimme von den Wänden wider.

***


„Ich höre Schritte.”

Der Engel sah Jack an und spitzte seine Ohren. „Ja, ich auch. Sie sind gut.” Er bemerkte, wie sein Begleiter das Schwert fester packte. „Halten Sie ihre Waffe locker, nicht zu fest. Sehen Sie das Schwert als Verlängerung Ihres Armes und Ihre Hand als ein weiteres Gelenk.”

Sie kamen keine 100 Schritte weiter, als ihnen echsenhafte Wesen entgegen kamen. Sofort blieb der Engel stehen und hob sein Schwert. „Angriff ist die beste Verteidigung”, murmelt Jack und stürzte sich auf die entgegenkommenden Gestalten. Krallen hieben nach ihm, als er dicht genug dran war. Sein Schwert war schneller als das Reptil und schuppige Hände fielen zu Boden. ‚Wenn Sie die Möglichkeit haben, einen Treffer zu landen, dann nutzen Sie sie‘, fuhren ihm die Worte des Engels durch den Kopf. Er setzte nach, die Echse fiel.

Ein silberner Blitz durchschnitt neben Jack erst die Luft, dann eine Echsenklaue. Zwei Schlangenwesen sprangen von der Seite auf ihn zu. Mehr instinktiv als gewollt duckte er sich. Ein dumpfes Krachen erklang, als die Reptilien in der Luft zusammenprallten. Jack achtete nicht darauf sondern hieb erst nach rechts, dann nach links, wo gerade ein Feind dem Engel in den Rücken fallen wollte. Wie ein Blitz drehte sich der Engel um seine eigene Achse. Sein Schwert, blau schimmernd vom Blut der dämonischen Schlange sauste über Jacks Kopf, den dieser gerade noch einziehen konnte, und köpfte einen weiteren Feind. Jack stach nach links oben in die Brust eines Dämons und ließ sich nach hinten fallen, seine Waffe mit sich reißend und mit knapper Not bösartigen Klauen entgehend. Der Engel sprang in die Luft, breitete kurz seine Schwingen aus und fiel nach einem kurzen Gleiten in die Mitte des Pulkes der verbliebenen Unholde, sich um sich selbst drehend und sein Schwert gerade nach vorne haltend. Er ließ den Schlangendämonen keine Möglichkeit zur Flucht. Das eine Wesen, das dem Zorn des Engels entkam, rannte direkt in Jacks Klinge und spießte sich auf.

Jacks Atem ging schwer. Im Film sieht so was immer soviel weniger anstrengend aus. „Gut gemacht”, nickte der Engel anerkennend. „Ich glaube, wir haben eine Chance.”

„Ich schätze”, keuchte Jack, „Xiudingsbums weiß Bescheid, dass wir kommen.”

Der Engel nickte. „Ich denke, wir durften nicht erwarten, unerwartet zu kommen. Sei es drum. Wie heißt Du, mein Freund? Ich möchte von Dir berichten können und wissen, wer der Mensch war, der der Menschheit den Hintern gerettet hat. So sagt man doch bei Euch Menschen?”

Jetzt war es an Jack, zu grinsen. „Nenn mich J.R. Und von wem darf ich erzählen?”

Das Lächeln des Engels wurde ein wenig wehmütig. Zum ersten Mal bemerkte Jack, dass die Augen seines Begleiter in allen Farben des Regenbogens schimmerten. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass die Haare des Engels nicht blond waren, wie Jack sich Engelshaar immer vorgestellt hatte, sondern rot.

„Ich zöge es vor, Dir meinen Namen erst später zu offenbaren. Für den Augenblick will ich es so sagen: Ich bin der, der sich nicht an Gottes Regeln bindet. Dadurch bin ich der Eine, der ohne Probleme die Dinge tun kann, die Gott und meinen Brüdern nicht erlaubt sind.”

***


Während sie weitergingen, überlegte Jack, was der Engel gemeint haben könnte. Der, der sich nicht an Gottes Regeln bindet? Der Freibeuter unter den Engeln, der mit Gottes Kaperbrief das Böse von der Erde fernhielt, wo Gott selbst es nicht durfte? Warum sollte Gott solche Dinge nicht tun dürfen?

„Weil Gott und seinen Engeln die direkte Einmischung in Eure Angelegenheiten nicht erlaubt ist. Verzeih, aber Du hast so laut gedacht, dass ich es nicht überhören konnte.” Der Engel lächelte entschuldigend.

„Kein Thema”, meinte Jack knapp und blieb stehen. Er wollte das Thema noch weiter verfolgen, aber sie hatte eine Art Dom unter der Erde erreicht, in dem die Luft förmlich glühte. Die Hitze nahm Jack den Atem. Augenblicklich klebte sein Hemd schweißnass an seinem Körper.

In der Mitte des Doms stand ein Mexikaner, auf dem Kopf einen zerfetzten Sombrero, einen Poncho übergeworfen, der mindestens 150 Jahre alt sein musste. „Seid willkommen in meiner Welt!”, erklang zischend die Stimme des Mexikaners. „Ich hoffe, Ihr seid bereit, Euer Ende zu finden.”

Jack war eigentlich noch nicht bereit dazu. „Das macht nichts, Du wirst trotzdem sterben”, erhielt Jack schlangengleich zischend die Antwort. Der Mann in der Mitte des Raumes hob die Hände. Er wuchs, aber das verlor für Jack schlagartig an Bedeutung, als aus einem riesigen Schlangenmaul ein Feuerball auf ihn zuflog.

Der Engel nutzte die Ablenkung und stürzte sich auf den Dämon, der sich schnell wie eine Viper zur Seite schlängelte, seinen Körper erhob und den Geflügelten von oben angriff. Im letzten Augenblick wich der Engel aus und hieb blind um sich, die Schlange zum Zurückweichen zwingend. Jack rappelte sich auf und stieß dem Dämon sein Schwert bis zum Heft in den Rücken. Die Xiuhcoatl bäumte sich auf. Hitze durchströmte Jack wie ein Feuer, das ihn von innen verbrennen wollte. Er versuchte, sich festzuhalten und doch fand er sich im nächsten Augenblick an der Wand des unterirdischen Doms wieder, sich vor Schmerzen krümmend, benommen vom Feuer, das immer noch in ihm zu brennen schien.

Der Schlangengott beachtete Jack nicht weiter. Er wandte sich augenblicklich dem Feind zu, der ihm gefährlicher schien. Feuer, wie es heißer in der Hölle nicht sein kann, versengte den Engel. Als die Flammen erstarben, hob dieser trotzig den Blick. Als Jack seinen Kopf etwas hob, sah er, dass des Engels Regenbogenaugen in einem gleißenden Licht erglühten. „Wir müssen den Speer finden!”, rief der Engel. Die Schlange blickte hinter sich. Eine Sekunde, zwei Sekunden. Dann sah wieder zum Engel. Jack setzte sich auf. Er ließ seine Augen dahin schweifen, wohin der Dämon geblickt hatte. Ein bronzener Speer glänzte in dem feurigen Licht, das die Höhle erhellte.

„Ich habe ihn!” Bei dem Klang dieser Worte zuckt Xiuhcoatl unwillkürlich zusammen. Er sah wieder hinter sich, sein Blick heftete sich an einen Menschen, der sich am Ende seiner Kräfte trotzig aufbäumt. Jack atmete tief ein und wieder auf, erwidert den Blick der Schlange. Die Zeit verrann, während der Mensch und der Schlangengott regungslos dastanden. Jack sah kurz den Engel an. Grelles weißes Licht umgab ihn. ‚Ich habe einen Plan‘, dachte Jack. Der Engel nickte. Die Schlange näherte sich langsam dem Menschen, hob den Kopf und riss das Maul auf. Nadelspitze gifttriefende Zähne zeigten sich Jack. Geduldig wartete Jack, bis die Schlange zustieß. „JETZT!”

Der Engel verstand. Licht wie von zwei Dutzend Blendgranaten erfüllte die Höhle. Ein markerschütternder Schrei des Schlangendämons hallte von den Wänden wider. Jack nach rechts und nahm den Speer. Mit einem Satz nach vorne stieß er zu, versenkte die Spitze dort, wo er das Herz der Schlange vermutete. Der Schrei wurde lauter. Wütend, außer sich vor Schmerz warf sie sich nach vorne, um den Menschen zu zerquetschen. Jack sprang zur Seite und der Speer bohrte sich tiefer und tiefer in den Körper des Dämons, bis er schließlich am Rücken erneut die schuppige Haut durchbohrte. Jack streckte die Hand aus und der Engel ließ ein neues Schwert zwischen Jacks Fingern erscheinen. Er packte es mit beiden Händen und hieb zu. Der Schaft des Bronzespeeres zerbrach. Xiuhcoatl stieß einen letzten Schrei aus. Starke Hände packten Jack und zerrten ihn weg. Feuer umgab ihn. Einen Augenblick später war alles ruhig.

***


Das Nächste, was Jack wahrnahm, war ein Roggenfeld, in dem er stand. Das Getreide war erntereif. Die Sonne brannte aber seltsamerweise fühlte sich die Hitze des Spätsommers – es musste wohl Spätsommer sein – angenehm kühl an.

„Wo sind wir?”, wollte er von seinem Begleiter wissen. Dann sah er in der Ferne eine seltsame Gestalt. Das bärtige Gesicht des Mannes, den er sah, war glatt rasiert. Über dem weißen Anzug trug er einen rot glänzenden Ledermantel. Oder war es doch eine sehr weite, weiße, griechisch anmutende Tunika, die den dicken Bauch des gertenschlanken Mannes bedeckte? Das schulterlange blonde Haar schimmerte grau und war säuberlich militärisch kurz geschnitten. Von einem Augenblick zu anderen schien sich das Bildnis der Gestalt zu verändern.

Der Engel legte Jack die Hand auf die Schulter, als wolle er ihn trösten. „Das ist …”

„Gott”, unterbrach ihn der Mensch. „Soll man sich deshalb kein Bild von ihm machen? Weil er sich nicht festlegen lassen will?” Jack kichert. Ein tiefes, grollendes, amüsiertes Lachen erscholl als Antwort rings um Mensch und Engel herum.

Die Gestalt kam näher. Jack sah den Engel an. „Heißt das, ich bin tot?”

„Du warst schon tot, als Du mich fandest, mein Freund.”

„Es ist noch nicht meine Zeit”, rief Jack.

„Egal, wann ein Mensch stirbt”, entgegnete der Engel traurig lächelnd, „es ist nie seine Zeit.”

Gott blieb ein paar Schritte entfernt stehen. Jack sah ihm in die Augen. Gott erwidert den Blick und nickte schließlich. Seine Finger wiesen auf einen Torbogen hinter Jack.

„Ich soll da durch?”

Ja!” Mehr bekam Jack nicht zur Antwort. Ein einfaches Ja musste reichen, dann verschwand.

Der Engel sah seinen menschlichen Freund staunend an. „Du musst ihn beeindruckt haben. Es passiert nicht oft, dass er einen Menschen zurückkehren lässt.”

„Ich weiß.” Jack zögerte. „Sehen wir uns irgendwann wieder?”

Der Engel schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich habe für Dich keine Reservierung bei mir.”

„Kannst ja mal auf 'nen Kaffee vorbeikommen … Lucifer.”

Der Engel trat einen Schritt zurück. „Woher weißt Du …”

„Du nanntest Dich den, der sich nicht an Gottes Regeln bindet. Ein rebellischer Engel. Und Du trägst das Licht in Dir. Daher Dein Name: Lichtträger. Lucifer. Das mit der fehlenden Reservierung bei Dir hat mir diese Ahnung bestätigt.”

Lächelnd reichte Lucifer dem Menschen die Hand. „Ein Kaffee ist gut, J.R.”

„Jack”, erwiderte der Mensch lächelnd und ergriff die Hand. „Jack Raphael Connors.”



Das Piepsen eines Herzmonitors drang an Jacks Ohr. Langsam öffnete er die Augen. Das Licht, das durch das Fenster fiel, blendete ihn einen Augenblick. Jack blinzelte. Eine Schwester stand an seinem Bett und kontrollierte die Infusion.

„Was ist passiert?”, fragte er mit schwacher Stimme.

„Sie sind wach?”, war die Antwort. Jack wunderte sich, warum die Menschen immer das Offensichtliche hinterfragen.

„Es gab ein Zugunglück, Mr. Connors”, erhielt Jack dann die gewünschte Auskunft. „Es ist glimpflich ausgegangen. Sie waren der Einzige, um dessen Leben wir kämpfen mussten.

„Dann habe ich alles nur geträumt?”

Die Schwester lächelte verwirrt. „Ich weiß nicht, was sie meinen”, sagte sie lächelnd, „aber ich vermute, es war nur ein Traum.”

„Könnten sie den Fernseher einschalten?” Jack wollte gern wissen, was er so verpasst hat in der Welt. Die Schwester verließ das Zimmer. In den Nachrichten lief ein Bericht über eine rätselhafte Explosion mitten in der Wüste. Die Gegend war nicht bewohnt. Im Explosionskrater fand man verkohlte Überreste schuppiger Haut. Man nahm aufgrund der Größe an, dass die Hautreste einer bisher nicht bekannten Saurierart gehörten, wenngleich sie eher der abgestreiften Haut einer Schlange ähnelten. Aber eine Schlange dieser Größe gab es nicht.

***


Cecilia wollte ihren geliebten Jack im Krankenhaus besuchen. Als sie in sein Zimmer trat, stand er am Fenster. Jack drehte sich um und trat auf seine Ehefrau zu. Einen Wimpernschlag lang dachte Cecilia, an seinem Rücken Flügel gesehen zu haben.


KurzgeschichtenStartseite


 
Besucher bisher:


derzeit online:

Lasst Freunde teilhaben!



Des Lords Heim


Besuchet mich!

letzte Updates:

- 06.08.2013 eine Geschichte nach einem Zitat von Benjamin Franklin
- 02.08.2013 Er war einer der größten Komiker unseres Landes. Groß Menschen soll man ehren.
- 30.07.2013 Ein Hexenjäger geht um.
- 23.07.2013 Und noch ein Gedicht...

   
öffnen

neuester Gedankensplitter:
31.05.2021
Wie soll das Kind heißen?


gdnobds.de –
Willkommen beim Weltuntergang!


Warning: DOMDocument::load() [domdocument.load]: Document is empty in /users/mordred/www/zweitetales/gdnobds.xml, line: 1 in /users/mordred/www/zweitetales/update.php on line 96

Fatal error: Call to a member function getElementsByTagName() on null in /users/mordred/www/zweitetales/update.php on line 100